Montag, 25. Mai 2009

Metakognition - Die unheimliche Leere im Innern

1. Prolog

Nur noch zu spüren, wie das eigene Auge keinen Fokus mehr finden kann, wie die Lider flattern, wie das eigene Blut kocht und die Adern pulsieren, wie jeder Muskel im Rhythmus mit dem eigenen Herzschlag ekstatisch zuckt, mag wohl im ersten Moment wie ein Klimax der eigenen Horrorvorstellungen von Alpträumen klingen. Wenn dieses Szenario allerdings einen erlösenden Wert bekommt und symbolisch gesehen sogar das willkommenste Kleinod einer ganzen Existenz bedeuten kann, gerät man wohl ins Grübeln.
Nachdem man aus einer Serie von wahnwitzigen und absolut irrsinnigen Träumen aufwacht und sich nicht sicher sein kann, ob man es geträumt oder wahrlich erlebt hat, beginnt der eigene Verstand verzerrte, ineinander verschlungene und mosaikähnliche Konstrukte aufzubauen. Reaktion, Konzentration, ja sogar angeborene Reflexe scheinen sich längst in die letzten Winkel des eigenen Bewusstseins verkrochen zu haben und fristen nur noch eine Art Alibidasein.
Ich bin aufgewacht, versuchte mich zu beruhigen, die Kontrolle über meinen Körper wieder an mich zu reißen. Meine Chancen waren gleich null, doch ich versuchte, es aufzuarbeiten. Ungleich einem Schlussstrich ging ich alles wieder durch und erreichte dabei einen weiteren tranceartigen, aber dennoch anderen Zustand als zuvor. Es war wie in einem dieser 3D-Endzeitdramen, wo man in vermeintlicher Sicherheit vor einem Bildschirm oder einer Leinwand sitzt, den Protagonisten entweder dabei beobachtet oder vielleicht sogar selbst steuert, wie er vielerlei Hürden meistert, sich von Speicherpunkt zu Speicherpunkt kämpft, ab und zu stirbt und am Ende entweder an sein Ziel kommt oder eben nicht - mein Spiel hatte keine Speicherpunkte. Nicht mal eine Taste zum Pausieren.

2. Ein Traum und davon

Ob es nun gut oder schlecht ist, kann ich bis heute nicht sagen, aber ich weiß, dass es mit einem Traum begann. Ich aß zu Abend, rauchte eine unwesentliche Menge Zigaretten, genehmigte mir drei Biere und wartete darauf, dass mich die Müdigkeit, die ich mittels Sedativa schneller herbeiführen wollte, übermannte. Mit einem flauen, beunruhigenden, aber dennoch vertrauten Gefühl im Magen begab ich mich in Richtung Bett. Ich klopfte die zwei Kissen auf, richtete die Bettdecke und machte es mir so gemütlich, wie es nur ging, um nichtsahnend so bald wie möglich in den Schlaf zu fallen.
Und ich fiel. Bilder taten sich auf. Es war zweifelsohne ein Traum. Die Sonne baute sich als das riesige Monstrum, als das ich sie schon immer sah, vor mir auf. Es gab nur sie und mich. Unter mir gab es keinen Teppich, keinen Boden, neben mir keine Regale oder Wände, über mir keinen Vogel oder Himmel. Sie war zum Greifen nah. Ich merkte, wie ich das Geschehen des Traumes in eine bestimmte Richtung lenken, aber nicht direkt eingreifen konnte. Ich konnte die Angst spüren, wie sie sich mit anfänglicher Wut schon bald in Raserei verwandelte. Ich erdachte mir ein ganzes Heer aus Klonen meiner selbst - alle dazu bereit, dieses unglaublich riesige Ungetüm zur Strecke zu bringen. Wieder taten sich viele hilfreiche Dinge zu meinen Füßen auf. Ich konnte mich bedienen, vergleichbar mit diesen Zeichentrickserien, wo Gott nur als eine Hand dargestellt wird, die ab und an mal aus einer Wolke bricht, um seinen Willen durchzusetzen, jemanden zu loben oder zu strafen. Ich hatte den Himmel unter und die Sonne vor mir. Es begann Sterne zu regnen und um uns herum wurde es immer bunter, lauter und turbulenter. Die Richtung konnte ich weiterhin bestimmen, die Requisiten nicht.
In blindem Wahn stürzten wir uns auf sie. Man konnte ihr den Schmerz und die Wut ansehen und auch mein Körper begann allmählich Kenntnis von meinem Traum zu nehmen und reagierte dementsprechend darauf. Meine Atemfrequenz und mein Puls schossen in die Höhe wie die Sterne der Sonne entgegen. Irgendwann erlosch ihr Licht, zumindest war es das, was mir meine Augen glauben machen wollten. Eine Odyssee aus Traum, Delirium und Wahn nimmt ihren Lauf.
Mein Körper war offensichtlich der Meinung, ich wäre aufgewacht und auch für mich hatte es den Anschein. Ich öffnete die Augen und sie war da. Nicht einfach nur ein Ball aus Feuer, viel mehr Feuer mit einem Gesicht - einem verärgerten Gesicht. Es wurde wärmer. Wahrscheinlich reagierte mein Körper auch darauf, aber ich war absolut nicht mehr dazu in der Lage, jenen auch nur ansatzweise beachten zu können. Sie führte mich vor, schürte jedes negative Empfinden und schaute mich an, als wollte sie einen ungehorsamen, ahnungslosen Schüler strafen und sicherstellen, dass die gleiche Dummheit kein weiteres Mal begangen wird.
Sie pumpt Negativität in Form von Kummer, Sorge und Panik mit einer scheinbar weißen Hand durch mein Hirn, die mit ihren stromlinienförmigen Fingern mit jeder Bewegung neue Impulse sendet. Meine ganze Welt wird auseinander gerissen und in ihre Bestandteile aufgeteilt.
Es war, als würde sich ein farbloser Schleier über den roten Vorhang einer Theaterbühne legen, um einer makellosen Vorstellung sämtlichen Glanz zu rauben . Ich merke, wie es mir die Luft abschnürt und ich langsam aber sicher in die Arme völliger Teilnahmslosigkeit falle. Das Publikum applaudiert.

3. Asche als Hauptgang

Ich breche aus einer fruchtblasenähnlichen Hülle, wehrlos wie ein neugeborenes Kätzchen. Ich sehe mich. Nicht wie in einem Spiegel. Ich sehe mich aus einer anderen Perspektive, nicht meine. Meine ausgetrockneten, eingerissenen Lippen formen Worte und ich sehe wie das vermeintliche Ich darauf reagiert. Es wirkt zerbrechlich und sichtlich ohne ernsthafte, bewusste Wahrnehmung, doch trotzdem ist ein vergnügliches Schmatzgeräusch und das dazugehörige schmale, glückselige Grinsen in seinem - eigentlich meinem - Gesicht zu erkennen..
Es treibt durch eine Art Tunnel, der in allen möglichen Farben immer und immer wieder neu aufleuchtet. Ein Strom ist zu erkennen und ich beobachte das Szenario weiterhin ohne auch nur ansatzweise Herr der Lage zu sein. Meine Hand hebt sich wie von Geisterhand und wieder scheint es zu reagieren. Ich kann einen Blick darauf werfen, kann die hässlichen, abgekauten Fingernägel sehen. Die dreckigen, abgenutzten Hände, wie sie sich für dieses Ding erhoben haben. Trotz des offensichtlichen Abstands scheint eine Verbindung zu bestehen. Es wirkt, als schmatze es, weil ich es füttere und je tiefer wir durch den Strom in den Tunnel treiben, desto vergnüglicher scheint es zu grinsen.
Aus dem unregelmäßigen Aufleuchten der Tunnelwände ist nunmehr ein regelrechtes Flackern geworden und mehr und mehr macht es den Eindruck, als wären es Filme von einem nicht mehr ganz intakten Medium, die viel zu schnell abgespielt werden. Die Sequenzen werden klarer und mehr und mehr lässt sich erkennen. Sie zeigen Momente. Momente, die ich kenne und durchlebt habe. Ich spüre einmal mehr, wie sich wieder dieser Schleier anbahnt und es scheint, als würde dieses Ding sich von diesen Momenten ernähren. Wie durch einen Sog rückt meine Hand näher an das scheinbar schwebende, schmatzende Etwas und es umklammert schließlich meinen viel zu großen Daumen mit beiden Händen. Die Hände sind kalt. Mir wird schwindelig und ich schmecke Galle, während mein anderes Ich anfängt zu gackern und zu jaulen, als reite es gerade mit irrsinniger Geschwindigkeit auf seiner Lieblingsfigur eines Karussells.
Nun merkte ich, wie es kontinuierlich Erinnerungen und Gedanken aus mir zog und sich daran labte. Ich wusste nicht, was es für Erinnerungen waren, doch diese ganze Szene war ein Bild von paradoxer und vor allem fremder Selbstzerstörung. Faden für Faden. Es war nicht möglich, doch ich sah es selbst, ohne auch nur im Ansatz etwas dagegen unternehmen zu können,. Mir blieb nichts anderes übrig als mich zu ihm - auf das Keramikpferd daneben - zu setzen, die Galle zu ignorieren und mich gut festzuhalten.

4. Eine Romanze, Sternenstaub und klebriges Rot


Fügt man sich selbst absichtlich Schmerzen zu, so ist man gewillt, die Kontrolle zu behalten, um das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Klettere ich auf eine Leiter, so bin ich stets darauf bedacht, mir meine Kraft so einzuteilen, dass ich auch die letzte Sprosse auf dem Weg zur Unendlichkeit unbeschadet meistern kann. Plane ich eine Reise, so teile ich mir meine Vorräte ein, damit ich nicht verhungere. Was macht man aber, wenn man sich dabei beobachtet, wie Tropfen für Tropfen aus dem eigenen Körper entweicht, man die Hand aber nicht selber führt? Was macht man, wenn die Leiter aus dem eigenen Blut besteht und die Reise, die man antritt, keine freiwillige ist und der einzige Vorrat ein rares Gut namens Hoffnung ist? Sich in einem Zustand, der alles andere als kontrollierbar ist, in Hoffnung zu verlieren, gleicht einem Gladiatorenkampf mit einem frisch abgetrennten Arm, wo die Wunde noch triefend leckt und die hungrigen Tigerweibchen nichts lieber täten, als in dich zu kriechen und dich von dort aus zu zerreißen.
Ich habe die Reise gemacht und natürlich klammerte ich mich an Hoffnung. Ironischerweise war kein Schmerz zu groß und keine Leiter hatte zu viele Sprossen. Ich kam an und wäre es ein Tunnel gewesen, so hätte ich das Licht nicht gesehen, ich wäre es sogar gewesen. Triumph und Glück und Mord. Triumph und Glück und Mord. Triumph und Glück und Mord.
Immer wieder spielte sich der Ablauf ab, wobei man den Mord an der Hoffnung bereits mehrmals an die erste Stelle hätte stellen können. Oder hab ich vielleicht dieses Schwarz getötet? Mir blieb nichts anderes, als die Augen zu öffnen. Die Sonne scheint mir ins Gesicht. Ein brennender Schmerz jagt durch jeden Muskel und jeder Knochen scheint mich zu verfluchen, als ich mich aufsetzte und entgeistert auf meine Hände blickte. Sie waren tatsächlich komplett mit Blut getränkt.
Gehen wir also zwangsläufig über Leichen? Bringen wir automatisch und unbewusst Opfer, über die man sich in den wirklich wichtigen Momenten nicht im Klaren ist? Diese Fragen stellen sich, aber wie beantwortet man Fragen, die vor einer ungeklärten Ursache stehen? Noch so eine.
Immer wieder ruft sich diese weiße Hand in mein Gedächtnis. Der farblose Schleier, das kalte Ich und ich werde bombardiert. Zweifel, Angst und dieses unbekannte, unheimliche Nichts. Nicht zu wissen, wann man einen wachen Zustand erreicht hat, während man von Szenario zu Szenario gestoßen wird, Kontrolle nicht mehr vorhanden ist und nur noch von Angst dominiert wird. Die Dominanz einer unbekannten, undefinierten Größe über etwas, was man selbst sein sollte.
Man sieht sich aus der Perspektive einer dritten Person. Man beobachtet, wie man selbst verschlungen wird - ohne jeglichen Einfluss. Wie ein Zug, der in einem alten Western auf einen Punkt zurast, an welchem jemand an die Gleise gekettet wurde. Er kommt kurz bevor es vorbei ist zu der einzigen, Sinn machenden Erkenntnis: Ich bin gleich tot, ich bin das Gleis, ich bin der Zug und ich bin der Zugführer.

Ich bin aus diesem Alptraum aufgewacht, glaube ich.
Ich bin der Speicherpunkt, ich bin der Traum.
Ich bin die Hoffnung, ich bin das Publikum.
Ich bin die Hand, ich bin das Karussell.
Ich bin die Leiter und die Reise.
Ich bin der Tunnel und das Licht.
Ich bin der Tiger und der Gladiator.
Ich bin Triumph und Glück und Mord.

Ich habe niemanden erledigt, ich wurde nicht verschlungen.
Ich habe mich erledigt, ich habe mich verschlungen.


The Eerie Void Inside

V.

Samstag, 9. Mai 2009

Ein Akt der Freundschaft

Es sind diese typischen, trostlosen Tage, an denen er sich zu gern von einer mittelstarken Brise und dem Knarren der rostigen, alten Schaukel seines Vorgartens wecken lässt. Er erinnert sich gern daran, wie er dieses Haus mehr oder wenig legal erwarb und die Schaukel - eins der wenigen Relikte der Vorbesitzer, das er nicht übers Herz brachte, zu entsorgen - jagt ihm auch an diesem tristen Morgen ein schmales Lächeln auf sein zerfurchtes, von Erinnerungen geprägtes Gesicht.
Elias liebt Ordnung. Jedoch nicht die Form von Ordnung, die jeder normale Mensch mit diesem Wort assoziiert. Ein klarer Beweis dafür ist seine Wohnung, die durch den Siff und den Grauschleier ein eigenes Leben zu führen scheint. Er ist nicht oberflächlich - ganz und gar nicht. Er ist viel mehr ein wandelndes Kaleidoskop, das allem mehrere Seiten abgewinnt, alles mehrmals dreht und wendet und jede noch so kleine Facette für sich und seine Emotionsschubladen, wie er sie gern nennt, aufnimmt und auskostet, bis er jedes noch so kleine Lebenszeichen aufgesogen hat. Für nebensächliche Dinge, wie ein sauberes, wohnliches Zuhause oder gar einen Job ist da nun wirklich keine Zeit. Er kann sich einfach nicht mit dem Gedanken abfinden, an einer Supermarktkasse zu sitzen, während womöglich dieser schöne Gedanke an die kleine, schreiende Alison auf ihrer alten, rostigen Schaukel auf dem Weg ist, an seinen Nervensträngen zu kitzeln und ihn doch sogleich ins Delirium befördern könnte, wenn er nicht gerade diesen fetten, bärtigen Penner bedienen müsste, der ihm mit seinen schmierigen, vor Dreck nur so triefenden Händen das Wechselgeld in die Hand drückt, um sich direkt einen Korn zum Frühstück zu genehmigen.
‘Ach, Alison..’, denkt er nur noch und wie so oft verfliegt all’ der Gram. Schmunzelnd und sichtlich erregt, stapft er träge in die Küche, um sich seinen morgendlichen Kaffee zu genehmigen. Er hasst Kaffee, weil er so bitter schmeckt, doch er trinkt ihn, da auch die unangenehmen Empfindungen trainiert und bei Laune gehalten werden müssen. Er könnte es sich nie verzeihen, auch nur einen Geschmack oder eine Empfindung abflauen zu lassen und somit womöglich zu vergessen. Das erinnert ihn an sein tägliches Dilemma und er schüttet den noch viel zu heißen Kaffee gierig und unter Schmerzen hinunter und stürzt sogleich aus der Tür, um die täglich prall gefüllten Briefkästen zu leeren. Er besitzt zwei, denn er hat ein Abo für jede Zeitung des Countys. Er braucht sie, denn er sucht eine würdige Nachfolgerin für Alison und möchte keine Gelegenheit versäumen, sie vielleicht zu finden. In aller Routine schlägt Elias zuerst die lokalen Sportnachrichten auf. Schmal und brünett soll sie sein, zierlich und rein mit schönen schlanken Fingern und einer Stupsnase, einem sinnlichen Mund und riesigen Augen tiefer als jeder Ozean. So wie Alison. Er hat tausende Fotos von Alison gemacht - vorher und nachher. Er fand Alison auch im lokalen Sportteil. Sie gewann bei einem Leichtathletikwettbewerb ihrer Grundschule und da es in dieser Region nicht viel zu berichten gibt, dürfen sich auch die kleinen Bewohner mal ganz groß fühlen, wenn ihr Foto schwarz auf weiß zu den stolzen Eltern strahlt. Manchmal zum Leidwesen der abgedruckten und manchmal sehr zur Freude von Elias Stalker. Er hat sich den Namen selbst gegeben. Es klingt für ihn einfach besser als Elias Smith´, ‘So heißt doch jeder zweite Bänker’, sagt er immer. Stalker hingegen hat für ihn etwas geheimnisvolles und er hält sich wirklich für sehr geheimnisvoll. Des Weiteren verbindet er damit eine gewisse Unantastbarkeit und auch Attraktivität, wovon er seiner Meinung nach natürlich eine große Menge vorweisen kann.
Und da war sie. Stolz hält sie eine Silbermedaille und eine Urkunde in die Kamera und lässt sich mit den zwei anderen Mädchen feiern. ‘v.l.n.r.: Michelle A., Julia A. und Beth S.’ steht unter dem Bild und er fährt genüsslich mit dem Zeigerfinger über das Bild und flüstert lüstern ‘Dir wird meine Schaukel gefallen, Michelle’ und beginnt sogleich zu schmunzeln, weil ihm die Dramatik solcher selbstkreierten Momente immer wieder eine Wärme durch die Adern jagt, die er sonst nur erfuhr, wenn er von seinem Vater mit dem Taser, der eigentlich für Hunde gedacht war, bestraft wurde.

Sofort schlüpfte er in seine olivgrüne Cordhose und seine beigen Halbschuhe. Er streift sich eines seiner typischen Secondhand-Shirts über und wirft noch eine Trainingsjacke nach, damit ihn der Wind nicht überrascht. Mr. Stalker hält nichts von Planung. ‘Planen tut nur, wer Zweifel hat’, schnappte er mal in einer Talkshow auf und obgleich er nichts von diesen Sendungen hält, hat ihm der Satz dermaßen imponiert, dass er schließlich Alison fand und sie kurzer Hand umlegte. Umziehen wollte er schließlich sowieso.

Mit etwa 8 Meilen pro Stunde über der Geschwindigkeitsbegrenzung düste Elias in seinem alten, wackligen Mustang über die Landstraße. Mit geöffnetem Fenster brauste er aufgeregt in Richtung Easthaven. Dort war er auch zur Schule gegangen - und das mit Bravour. Er freute sich schon auf das alte Backsteingebäude, aber vor allem freute er sich auf Michelle. Vorher allerdings wollte er dem Hausmeister einen Besuch abstatten. Sie haben schon früher ein paar Biere gemeinsam gekippt und darüber sinniert, was sie alles mit Mrs Cole anstellen würden, wäre sie doch genauso lüstern und verdorben, wie sie es waren. ‘Wie Mrs Cole nun wohl aussieht?’, denkt er sich und fährt sich mit der Zunge über die Lippen. ‘Wie siehst du heute nur aus Jenny?’
An der Schule angelangt, begibt er sich direkt zu Bobs Verschlag. Sie begrüßen sich übertrieben freundlich und machen auch keinen Hehl daraus, dass ihnen dieser Smalltalk-Mist ziemlich auf die Geheimratsecken geht. Obgleich sie beide eine ähnliche Auswahl an bevorzugten Interessen haben, kann Elias Bob nicht ausstehen. Er ist nur ein Mitläufer, der die Essenz von Schönheit nicht verinnerlicht und ebenso wenig zu schätzen weiß. Trotzdem genoss er die Abende in gewisser Weise und achtet ihn - wenn auch mit Distanz. Sie unterhalten sich über die heutige Zeitung und auch um die Entdeckung macht Elias kein Geheimnis. Bob beglückwünscht ihn und erzählte seinerseits von einer Entdeckung. Jedoch aus einer anderen Zeitung.

‘Die habe ich gar nicht erst aufgeschlagen.’
- ‘Du würdest sie lieben, sage ich dir. Und was nicht noch alles.’
‘Du Lump, ich rühre die Mädchen nicht an. Ich bin schließlich nicht so ein Perversling, wie du es bist.’
- ‘Was du tust, ist also nicht pervers, sondern eine Heldentat? Verstehe, verstehe.’
‘Nun hör schon auf mit der Erbsenzählerei. Wie wäre es? Trinken wir später ein Bier um der alten Zeiten Willen? Etwas zu begießen haben wir ja anscheinend auch. Ich würde zu gern etwas mehr von - wie war doch gleich ihr Name?’
- ‘Ich werde einen Teufel tun, ihn dir zu verraten. Du machst doch auch vor Freundesgut keinen Halt.’ Ich würde gern mit dir trinken gehen, aber ich habe Besuch und später wohl noch einen Gast.’

Er grinste dreckig und ein Funkeln in seinen Augen ließ sich nur schwer ignorieren.

‘Nun gut, ich bin heute nur auf Beobachtungstour. Ich will es langsam angehen, es richtig auskosten.’
- ‘Hau schon ab, du Stalker. Und vergiss die Fotos nicht.’
‘Ich habe doch bisher immer an Fotos gedacht. Du bist der vergessliche von uns beiden. Wo wir schon dabei sind: Bei Gelegenheit bräuchte ich ein paar Werkzeuge zurück. Ansonsten noch viel Spaß dir, ich werde Mrs Cole eventuell noch einen Besuch abstatten. Hat sie noch immer ihr altes Büro?’
- ‘Da muss ich dich wohl enttäuschen, mein Freund. Sie wohnt hier längst nicht mehr. Hat einen schwarzen Provinzhengst aufgerissen. Aalglatter Schleimklumpen, aber was soll’s, sie war so oder so nicht mehr das, was sie mal war.’
‘Nun, gut. Scheiß drauf. Ich ziehe weiter. Ich habe noch ein paar Besorgungen zu machen, wenn du weißt, was ich meine.’
- ‘Geh schon. Wir sehen uns.’

Stalker ging eilig davon. Das Gespräch dauerte ihm viel zu lang und er schaute auf die Uhr. Vier Minuten bis Pausenbeginn. Er geht zu einem Snackautomaten, zieht einen Schokoriegel und geht nun in Richtung Hof. Er peilt die Bänke an, auf denen er schon in seiner Schulzeit saß, setzt sich und denkt an die Zeiten, als er noch Schüler war. Drei Minuten. Geistesabwesend öffnet er den Schokoriegel und beißt hinein. Er denkt an die Hofpausen. Als kleiner Stalker saß er hier, beobachtete die Sportler, die Trottel und alle anderen Gruppen, die sich regelmäßig in den Pausen zusammenrotteten. Er gehörte nirgends dazu, es gab schließlich keine ‘Ich bin ein sadistisches Schwein und würde gerne mal jemanden quälen und dann umlegen’-Gruppe. Bei dem Gedanken an diesen, wie er fand, wirklich tollen Gag und vor allem die Vorstellung, es würde tatsächlich so eine Interessengruppe geben, lief ihm das Wasser im Mund zusammen und ein klebriger Karamellfaden löste sich aus seinem Mund und legte sich behutsam auf den Reißverschluß seiner Trainingsjacke. Zwei Minuten. Am meisten Spaß hatte er, wenn Mrs Cole Aufsicht hatte. Er liebte es, ihr dabei zuzusehen, wie sie andere Schüler tadelte, sich zu benehmen. Sie war sehr autoritär, was ihn anmachte. Er hatte schon im zarten Alter einen ausgeprägten Geschmack, was Mädels angeht, jedoch sollte es so werden, dass die Frauen des Interesses mit dem eigenen Älterwerden auch älter werden, was bei Elias allerdings umgekehrt proportional ablief. Würde er aber die Möglichkeit haben, es Mrs Cole noch mal ordentlich besorgen, käme ihm ein Zögern nicht in den Sinn. Elias war nicht rassistisch, doch politisch korrekt war er auch nie. ‘Dieser verdammt Nigger’, denkt er sich und überlegt, ob er nicht ein paar Informationen einholen sollte, um Mrs Cole doch noch einen letzte Besuch abzustatten. Eine Minute. Mr Stalker knüllt das Papier zusammen und wirft es gekonnt in den circa zweieinhalb Meter entfernten, orangefarbenen Plastikpapierkorb. Er trommelt noch ein wenig arrhythmisch mit den Füßen zu einem seiner Lieblingssongs und wartet auf das Klingelzeichen in fünf, vier, drei, zwei und sie rang. Immerhin so gut wie pünktlich.

Elias beobachtet die Kinder, wie sie euphorisch aus den Eingängen stürmten. Wachsam mustert er jedes Kind. Sie würde ihm nicht entgehen. Sein geschultes Auge hat ihn noch nie im Stich gelassen. Auch bei den kleinen Schülern und Schülerinnen konnte er schon viele kleine Gruppierungen ausmachen und so wird er Michelle vielleicht auch bei den Sportlerinnen finden. Die erstplatzierte Julia entdeckte er längst. Sie stand unweit von Beth - der drittplatzierten - und unterhielt sich scheinbar ohne Luft zu holen mit ihren Freundinnen. Keine Michelle weit und breit. Krank kann sie doch nicht sein, schließlich hat sie gestern noch eine Leistung abgeliefert, die für den zweiten Platz gereicht hat. Mr Stalker steht auf und geht zum Büro der Sekretärin. Er klopft sanft und wird gebeten, einzutreten.

- ‘Was kann ich für Sie tun?’
Er lächelt charmant, doch ihm fiel ein, dass der Nachname Michelles nicht in dem Artikel stand und er hätte sich fast sichtbar auf die Zunge gebissen.
‘Nun, ich wollte meine Nichte Michelle soeben von der Schule abholen. Das sprachen wir gestern auf dem Leichtathletikwettbewerb ab. Sie belegte den zweiten Platz, müssen sie wissen. Darauf wollte ich ihr heute mal ein Eis spendieren.’
- ‘Das ist süß von Ihnen. Das erinnert mich daran, dass ich meinen Neffen auch mal wieder etwas mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen sollte.’
Er lächelt weiterhin höflich, doch innerlich brodelte es in ihm.
(‘Nerv mich nicht mit deinem Privatkram, du widerliche Schlampe. Sag mir, wo sie ist.’)
Er sagt: ‘Der Job nimmt sie doch sicher auch gehörig ein. Er wird es Ihnen verzeihen. Ich habe zur Zeit ein wenig frei. Wissen sie denn nun, ob sie hier ist? Sie wissen doch, wen ich meine, oder?’
- ‘Na klar, ich war auch auf dem Wettbewerb. Sie sahen so süß aus mit ihren Medaillen, den Urkunden und ihrem breitem Grinsen..
(‘Wenn du noch einmal SÜSS sagst, hacke ich dir deinen Kopf an Ort und Stelle ab.’)
- ‘..und wie sie sich gefreut haben. Jedenfalls, nein.’
‘Was Nein?’
- ‘Michelle war heute nicht in der Schule. Mrs Kruger hat mir auch schon aufgetan, Meldung zu geben, wenn ihre Eltern angerufen haben, warum die kleine Michelle heute nicht zur Schule kommt. Die Süße versäumt so gut wie nie einen Tag.’
(‘Ich bring dich um!’) Er überlegt.
‘Das ist seltsam. Sie hätten sich doch bei mir melden müssen.’
- ‘Tut mir Leid, da kann ich ihnen leider auch nicht weiterhelfen, aber wenn sie wollen, gehe ich auch gern mit Ihnen Eis essen.’
Sie grinste verschmitzt und man sah ihr deutlich an, dass dieser Satz so nicht geplant war.
Stalker überlegte, ob er als Entschädigung nicht vielleicht sie mitnehmen solle, doch kam zu dem Entschluß, dass er ihr Gelaber nicht aushalten würde, bis sie schließlich bei ihm wären. Vorausgesetzt natürlich, sie kommt überhaupt mit.
‘Das ist sehr aufmerksam von Ihnen und ich würde liebend gern annehmen, aber ich möchte nun doch erstmal sicher gehen, dass mit meiner Nichte alles in Ordnung ist. Ein anderes Mal jedoch gern, Madame.’
Sie verabschieden sich förmlich und beim Verlassen der Tür hat er die Schlampe auch schon wieder vergessen.

Außer sich vor Wut rast Elias in Richtung Heimat. Er hatte keine weiteren Anhaltspunkte und als Onkel kann man ja auch schlecht fragen, wo die eigene, gottverdammte Scheißnichte wohnt. Und mehr Informationen hätte er wohl auch nicht bekommen, wenn er seine richtige Identität preisgegeben hätte. ‘Hey, ich bin Elias Stalker und suche Michelle. Ich würde sie gerne in Kleidchen stecken und wieder ausziehen, Fotos machen und ihr danach jeden Fingern einzeln abbeißen und sie damit füttern. Könnten Sie mir bitte ihre Adresse geben, Madame?’ Er schmunzelte wieder. Er findet sich unglaublich witzig.
Zuhause angelangt schmeißt er sich auf die Couch, gießt sich einen Tullamore ein und kippt ihn in einem Zug runter, um das Glas ein weiteres Mal vollzumachen. Der Groll wächst. Lauter Fragen: Wo ist sie? Wie kann das sein? Warum gerade heute? Was ist passiert? Ihm steht der Sinn nach einer nicht unerheblichen Menge Alkohol. Er überlegt, ob er Bob nicht doch noch versuchen soll, auf einen Drink zu überreden. An seinem nichtigen Gast kann er sich auch morgen noch zu schaffen machen. Er greift zum Telefon und wählt. Nach nur zweimal Klingeln geht der Hausmeister ran und ist - trotz dass er kurz vor Feierabend noch mal gestört wird - recht erfreut, so bald wieder von Elias zu hören. Mr Stalker lässt seine Überredungskünste spielen, jedoch reichte ein Satz von Bob, um ihn komplett zu entwaffnen.
‘Du miese, kleine Ratte’, keift Elias und hängt den Hörer wütend auf.