Samstag, 9. Mai 2009

Ein Akt der Freundschaft

Es sind diese typischen, trostlosen Tage, an denen er sich zu gern von einer mittelstarken Brise und dem Knarren der rostigen, alten Schaukel seines Vorgartens wecken lässt. Er erinnert sich gern daran, wie er dieses Haus mehr oder wenig legal erwarb und die Schaukel - eins der wenigen Relikte der Vorbesitzer, das er nicht übers Herz brachte, zu entsorgen - jagt ihm auch an diesem tristen Morgen ein schmales Lächeln auf sein zerfurchtes, von Erinnerungen geprägtes Gesicht.
Elias liebt Ordnung. Jedoch nicht die Form von Ordnung, die jeder normale Mensch mit diesem Wort assoziiert. Ein klarer Beweis dafür ist seine Wohnung, die durch den Siff und den Grauschleier ein eigenes Leben zu führen scheint. Er ist nicht oberflächlich - ganz und gar nicht. Er ist viel mehr ein wandelndes Kaleidoskop, das allem mehrere Seiten abgewinnt, alles mehrmals dreht und wendet und jede noch so kleine Facette für sich und seine Emotionsschubladen, wie er sie gern nennt, aufnimmt und auskostet, bis er jedes noch so kleine Lebenszeichen aufgesogen hat. Für nebensächliche Dinge, wie ein sauberes, wohnliches Zuhause oder gar einen Job ist da nun wirklich keine Zeit. Er kann sich einfach nicht mit dem Gedanken abfinden, an einer Supermarktkasse zu sitzen, während womöglich dieser schöne Gedanke an die kleine, schreiende Alison auf ihrer alten, rostigen Schaukel auf dem Weg ist, an seinen Nervensträngen zu kitzeln und ihn doch sogleich ins Delirium befördern könnte, wenn er nicht gerade diesen fetten, bärtigen Penner bedienen müsste, der ihm mit seinen schmierigen, vor Dreck nur so triefenden Händen das Wechselgeld in die Hand drückt, um sich direkt einen Korn zum Frühstück zu genehmigen.
‘Ach, Alison..’, denkt er nur noch und wie so oft verfliegt all’ der Gram. Schmunzelnd und sichtlich erregt, stapft er träge in die Küche, um sich seinen morgendlichen Kaffee zu genehmigen. Er hasst Kaffee, weil er so bitter schmeckt, doch er trinkt ihn, da auch die unangenehmen Empfindungen trainiert und bei Laune gehalten werden müssen. Er könnte es sich nie verzeihen, auch nur einen Geschmack oder eine Empfindung abflauen zu lassen und somit womöglich zu vergessen. Das erinnert ihn an sein tägliches Dilemma und er schüttet den noch viel zu heißen Kaffee gierig und unter Schmerzen hinunter und stürzt sogleich aus der Tür, um die täglich prall gefüllten Briefkästen zu leeren. Er besitzt zwei, denn er hat ein Abo für jede Zeitung des Countys. Er braucht sie, denn er sucht eine würdige Nachfolgerin für Alison und möchte keine Gelegenheit versäumen, sie vielleicht zu finden. In aller Routine schlägt Elias zuerst die lokalen Sportnachrichten auf. Schmal und brünett soll sie sein, zierlich und rein mit schönen schlanken Fingern und einer Stupsnase, einem sinnlichen Mund und riesigen Augen tiefer als jeder Ozean. So wie Alison. Er hat tausende Fotos von Alison gemacht - vorher und nachher. Er fand Alison auch im lokalen Sportteil. Sie gewann bei einem Leichtathletikwettbewerb ihrer Grundschule und da es in dieser Region nicht viel zu berichten gibt, dürfen sich auch die kleinen Bewohner mal ganz groß fühlen, wenn ihr Foto schwarz auf weiß zu den stolzen Eltern strahlt. Manchmal zum Leidwesen der abgedruckten und manchmal sehr zur Freude von Elias Stalker. Er hat sich den Namen selbst gegeben. Es klingt für ihn einfach besser als Elias Smith´, ‘So heißt doch jeder zweite Bänker’, sagt er immer. Stalker hingegen hat für ihn etwas geheimnisvolles und er hält sich wirklich für sehr geheimnisvoll. Des Weiteren verbindet er damit eine gewisse Unantastbarkeit und auch Attraktivität, wovon er seiner Meinung nach natürlich eine große Menge vorweisen kann.
Und da war sie. Stolz hält sie eine Silbermedaille und eine Urkunde in die Kamera und lässt sich mit den zwei anderen Mädchen feiern. ‘v.l.n.r.: Michelle A., Julia A. und Beth S.’ steht unter dem Bild und er fährt genüsslich mit dem Zeigerfinger über das Bild und flüstert lüstern ‘Dir wird meine Schaukel gefallen, Michelle’ und beginnt sogleich zu schmunzeln, weil ihm die Dramatik solcher selbstkreierten Momente immer wieder eine Wärme durch die Adern jagt, die er sonst nur erfuhr, wenn er von seinem Vater mit dem Taser, der eigentlich für Hunde gedacht war, bestraft wurde.

Sofort schlüpfte er in seine olivgrüne Cordhose und seine beigen Halbschuhe. Er streift sich eines seiner typischen Secondhand-Shirts über und wirft noch eine Trainingsjacke nach, damit ihn der Wind nicht überrascht. Mr. Stalker hält nichts von Planung. ‘Planen tut nur, wer Zweifel hat’, schnappte er mal in einer Talkshow auf und obgleich er nichts von diesen Sendungen hält, hat ihm der Satz dermaßen imponiert, dass er schließlich Alison fand und sie kurzer Hand umlegte. Umziehen wollte er schließlich sowieso.

Mit etwa 8 Meilen pro Stunde über der Geschwindigkeitsbegrenzung düste Elias in seinem alten, wackligen Mustang über die Landstraße. Mit geöffnetem Fenster brauste er aufgeregt in Richtung Easthaven. Dort war er auch zur Schule gegangen - und das mit Bravour. Er freute sich schon auf das alte Backsteingebäude, aber vor allem freute er sich auf Michelle. Vorher allerdings wollte er dem Hausmeister einen Besuch abstatten. Sie haben schon früher ein paar Biere gemeinsam gekippt und darüber sinniert, was sie alles mit Mrs Cole anstellen würden, wäre sie doch genauso lüstern und verdorben, wie sie es waren. ‘Wie Mrs Cole nun wohl aussieht?’, denkt er sich und fährt sich mit der Zunge über die Lippen. ‘Wie siehst du heute nur aus Jenny?’
An der Schule angelangt, begibt er sich direkt zu Bobs Verschlag. Sie begrüßen sich übertrieben freundlich und machen auch keinen Hehl daraus, dass ihnen dieser Smalltalk-Mist ziemlich auf die Geheimratsecken geht. Obgleich sie beide eine ähnliche Auswahl an bevorzugten Interessen haben, kann Elias Bob nicht ausstehen. Er ist nur ein Mitläufer, der die Essenz von Schönheit nicht verinnerlicht und ebenso wenig zu schätzen weiß. Trotzdem genoss er die Abende in gewisser Weise und achtet ihn - wenn auch mit Distanz. Sie unterhalten sich über die heutige Zeitung und auch um die Entdeckung macht Elias kein Geheimnis. Bob beglückwünscht ihn und erzählte seinerseits von einer Entdeckung. Jedoch aus einer anderen Zeitung.

‘Die habe ich gar nicht erst aufgeschlagen.’
- ‘Du würdest sie lieben, sage ich dir. Und was nicht noch alles.’
‘Du Lump, ich rühre die Mädchen nicht an. Ich bin schließlich nicht so ein Perversling, wie du es bist.’
- ‘Was du tust, ist also nicht pervers, sondern eine Heldentat? Verstehe, verstehe.’
‘Nun hör schon auf mit der Erbsenzählerei. Wie wäre es? Trinken wir später ein Bier um der alten Zeiten Willen? Etwas zu begießen haben wir ja anscheinend auch. Ich würde zu gern etwas mehr von - wie war doch gleich ihr Name?’
- ‘Ich werde einen Teufel tun, ihn dir zu verraten. Du machst doch auch vor Freundesgut keinen Halt.’ Ich würde gern mit dir trinken gehen, aber ich habe Besuch und später wohl noch einen Gast.’

Er grinste dreckig und ein Funkeln in seinen Augen ließ sich nur schwer ignorieren.

‘Nun gut, ich bin heute nur auf Beobachtungstour. Ich will es langsam angehen, es richtig auskosten.’
- ‘Hau schon ab, du Stalker. Und vergiss die Fotos nicht.’
‘Ich habe doch bisher immer an Fotos gedacht. Du bist der vergessliche von uns beiden. Wo wir schon dabei sind: Bei Gelegenheit bräuchte ich ein paar Werkzeuge zurück. Ansonsten noch viel Spaß dir, ich werde Mrs Cole eventuell noch einen Besuch abstatten. Hat sie noch immer ihr altes Büro?’
- ‘Da muss ich dich wohl enttäuschen, mein Freund. Sie wohnt hier längst nicht mehr. Hat einen schwarzen Provinzhengst aufgerissen. Aalglatter Schleimklumpen, aber was soll’s, sie war so oder so nicht mehr das, was sie mal war.’
‘Nun, gut. Scheiß drauf. Ich ziehe weiter. Ich habe noch ein paar Besorgungen zu machen, wenn du weißt, was ich meine.’
- ‘Geh schon. Wir sehen uns.’

Stalker ging eilig davon. Das Gespräch dauerte ihm viel zu lang und er schaute auf die Uhr. Vier Minuten bis Pausenbeginn. Er geht zu einem Snackautomaten, zieht einen Schokoriegel und geht nun in Richtung Hof. Er peilt die Bänke an, auf denen er schon in seiner Schulzeit saß, setzt sich und denkt an die Zeiten, als er noch Schüler war. Drei Minuten. Geistesabwesend öffnet er den Schokoriegel und beißt hinein. Er denkt an die Hofpausen. Als kleiner Stalker saß er hier, beobachtete die Sportler, die Trottel und alle anderen Gruppen, die sich regelmäßig in den Pausen zusammenrotteten. Er gehörte nirgends dazu, es gab schließlich keine ‘Ich bin ein sadistisches Schwein und würde gerne mal jemanden quälen und dann umlegen’-Gruppe. Bei dem Gedanken an diesen, wie er fand, wirklich tollen Gag und vor allem die Vorstellung, es würde tatsächlich so eine Interessengruppe geben, lief ihm das Wasser im Mund zusammen und ein klebriger Karamellfaden löste sich aus seinem Mund und legte sich behutsam auf den Reißverschluß seiner Trainingsjacke. Zwei Minuten. Am meisten Spaß hatte er, wenn Mrs Cole Aufsicht hatte. Er liebte es, ihr dabei zuzusehen, wie sie andere Schüler tadelte, sich zu benehmen. Sie war sehr autoritär, was ihn anmachte. Er hatte schon im zarten Alter einen ausgeprägten Geschmack, was Mädels angeht, jedoch sollte es so werden, dass die Frauen des Interesses mit dem eigenen Älterwerden auch älter werden, was bei Elias allerdings umgekehrt proportional ablief. Würde er aber die Möglichkeit haben, es Mrs Cole noch mal ordentlich besorgen, käme ihm ein Zögern nicht in den Sinn. Elias war nicht rassistisch, doch politisch korrekt war er auch nie. ‘Dieser verdammt Nigger’, denkt er sich und überlegt, ob er nicht ein paar Informationen einholen sollte, um Mrs Cole doch noch einen letzte Besuch abzustatten. Eine Minute. Mr Stalker knüllt das Papier zusammen und wirft es gekonnt in den circa zweieinhalb Meter entfernten, orangefarbenen Plastikpapierkorb. Er trommelt noch ein wenig arrhythmisch mit den Füßen zu einem seiner Lieblingssongs und wartet auf das Klingelzeichen in fünf, vier, drei, zwei und sie rang. Immerhin so gut wie pünktlich.

Elias beobachtet die Kinder, wie sie euphorisch aus den Eingängen stürmten. Wachsam mustert er jedes Kind. Sie würde ihm nicht entgehen. Sein geschultes Auge hat ihn noch nie im Stich gelassen. Auch bei den kleinen Schülern und Schülerinnen konnte er schon viele kleine Gruppierungen ausmachen und so wird er Michelle vielleicht auch bei den Sportlerinnen finden. Die erstplatzierte Julia entdeckte er längst. Sie stand unweit von Beth - der drittplatzierten - und unterhielt sich scheinbar ohne Luft zu holen mit ihren Freundinnen. Keine Michelle weit und breit. Krank kann sie doch nicht sein, schließlich hat sie gestern noch eine Leistung abgeliefert, die für den zweiten Platz gereicht hat. Mr Stalker steht auf und geht zum Büro der Sekretärin. Er klopft sanft und wird gebeten, einzutreten.

- ‘Was kann ich für Sie tun?’
Er lächelt charmant, doch ihm fiel ein, dass der Nachname Michelles nicht in dem Artikel stand und er hätte sich fast sichtbar auf die Zunge gebissen.
‘Nun, ich wollte meine Nichte Michelle soeben von der Schule abholen. Das sprachen wir gestern auf dem Leichtathletikwettbewerb ab. Sie belegte den zweiten Platz, müssen sie wissen. Darauf wollte ich ihr heute mal ein Eis spendieren.’
- ‘Das ist süß von Ihnen. Das erinnert mich daran, dass ich meinen Neffen auch mal wieder etwas mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen sollte.’
Er lächelt weiterhin höflich, doch innerlich brodelte es in ihm.
(‘Nerv mich nicht mit deinem Privatkram, du widerliche Schlampe. Sag mir, wo sie ist.’)
Er sagt: ‘Der Job nimmt sie doch sicher auch gehörig ein. Er wird es Ihnen verzeihen. Ich habe zur Zeit ein wenig frei. Wissen sie denn nun, ob sie hier ist? Sie wissen doch, wen ich meine, oder?’
- ‘Na klar, ich war auch auf dem Wettbewerb. Sie sahen so süß aus mit ihren Medaillen, den Urkunden und ihrem breitem Grinsen..
(‘Wenn du noch einmal SÜSS sagst, hacke ich dir deinen Kopf an Ort und Stelle ab.’)
- ‘..und wie sie sich gefreut haben. Jedenfalls, nein.’
‘Was Nein?’
- ‘Michelle war heute nicht in der Schule. Mrs Kruger hat mir auch schon aufgetan, Meldung zu geben, wenn ihre Eltern angerufen haben, warum die kleine Michelle heute nicht zur Schule kommt. Die Süße versäumt so gut wie nie einen Tag.’
(‘Ich bring dich um!’) Er überlegt.
‘Das ist seltsam. Sie hätten sich doch bei mir melden müssen.’
- ‘Tut mir Leid, da kann ich ihnen leider auch nicht weiterhelfen, aber wenn sie wollen, gehe ich auch gern mit Ihnen Eis essen.’
Sie grinste verschmitzt und man sah ihr deutlich an, dass dieser Satz so nicht geplant war.
Stalker überlegte, ob er als Entschädigung nicht vielleicht sie mitnehmen solle, doch kam zu dem Entschluß, dass er ihr Gelaber nicht aushalten würde, bis sie schließlich bei ihm wären. Vorausgesetzt natürlich, sie kommt überhaupt mit.
‘Das ist sehr aufmerksam von Ihnen und ich würde liebend gern annehmen, aber ich möchte nun doch erstmal sicher gehen, dass mit meiner Nichte alles in Ordnung ist. Ein anderes Mal jedoch gern, Madame.’
Sie verabschieden sich förmlich und beim Verlassen der Tür hat er die Schlampe auch schon wieder vergessen.

Außer sich vor Wut rast Elias in Richtung Heimat. Er hatte keine weiteren Anhaltspunkte und als Onkel kann man ja auch schlecht fragen, wo die eigene, gottverdammte Scheißnichte wohnt. Und mehr Informationen hätte er wohl auch nicht bekommen, wenn er seine richtige Identität preisgegeben hätte. ‘Hey, ich bin Elias Stalker und suche Michelle. Ich würde sie gerne in Kleidchen stecken und wieder ausziehen, Fotos machen und ihr danach jeden Fingern einzeln abbeißen und sie damit füttern. Könnten Sie mir bitte ihre Adresse geben, Madame?’ Er schmunzelte wieder. Er findet sich unglaublich witzig.
Zuhause angelangt schmeißt er sich auf die Couch, gießt sich einen Tullamore ein und kippt ihn in einem Zug runter, um das Glas ein weiteres Mal vollzumachen. Der Groll wächst. Lauter Fragen: Wo ist sie? Wie kann das sein? Warum gerade heute? Was ist passiert? Ihm steht der Sinn nach einer nicht unerheblichen Menge Alkohol. Er überlegt, ob er Bob nicht doch noch versuchen soll, auf einen Drink zu überreden. An seinem nichtigen Gast kann er sich auch morgen noch zu schaffen machen. Er greift zum Telefon und wählt. Nach nur zweimal Klingeln geht der Hausmeister ran und ist - trotz dass er kurz vor Feierabend noch mal gestört wird - recht erfreut, so bald wieder von Elias zu hören. Mr Stalker lässt seine Überredungskünste spielen, jedoch reichte ein Satz von Bob, um ihn komplett zu entwaffnen.
‘Du miese, kleine Ratte’, keift Elias und hängt den Hörer wütend auf.

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